"Es liegt in unserer Verantwortung, dass sich die Geschichte nicht wiederholt." Polenfahrt - Auschwitz und Auschwitz-Birkenau
Teil unserer Polenfahrt vom 15. bis zum 19. Juli war der Besuch von Auschwitz und Auschwitz-Birkenau. Auschwitz – das wohl bekannteste Konzentrations- und Vernichtungslager. Am 16. Juli, im Anschluss an das bewegende Zeitzeuginnengespräch mit der in Ausschwitz geborenen Stefania Wernik , besichtigten wir diesen so unmenschlichen Ort.
Die Stimmung, als wir durch die Tore gingen, war merklich angespannt und bedrückt. Als wäre ein Schalter umgelegt worden, sah man nach und nach immer mehr Emotionen in den Gesichtern unserer Gruppe: Entsetzen darüber, dass Menschen anderen Menschen so etwas jahrelang angetan haben, Trauer und Mitgefühl, wie auch schon beim Gespräch mit Frau Wernik.
Die Zahlen, die man sonst nur aus Texten oder Büchern im Unterricht kennt, werden auf einmal vorstellbar. Real.
Vielleicht ist gerade das so beängstigend. Die Tatsache, dass es nicht einfach bloße Zahlen in einem Geschichtsbuch sind, sondern Menschen.
Menschen, die ein Leben gehabt haben, wie du und ich.
Menschen, die Familie und Freunde hatten.
Menschen, die einfach aus diesem Leben entfernt wurden, aufgrund von banalen Dingen wie ihrer Herkunft oder ihrer Sexualität.
Von anderen Menschen. Menschen, die einfach über das Leben von Millionen bestimmten. Deren Handeln neun Jahre lang in 24 Haupt- und über 1.000 Außenlagern mehr oder weniger von anderen Menschen toleriert oder akzeptiert wurde.
Menschen tun grausame Dinge. Das ist das, was uns ein Stück weit auszeichnet. Fehler zu machen, daraus zu lernen und es besser zu machen. Jedoch sprengen die Entmenschlichung und Art und Weise der Behandlung der Menschen im KZ jegliche Vorstellung von Grausamkeit. Es ist menschenverachtend, entmenschlichend, grausam.
Wir haben Räume gesehen, in denen alles Hab und Gut der Häftlinge gestapelt war. Darunter die letzten Besitztümer wie Brillen, Töpfe, Koffer, Schuhe und Kämme. Betretenes Schweigen füllte den Moment, als wir vor diesen viel zu großen Haufen standen. Unvorstellbar in ihrer schieren Zahl. Doch als wir alle vor einem nicht beleuchteten Rauch durch eine Glasscheibe schauten, war es noch stiller. Manchen liefen Tränen über das Gesicht. Ich begriff erst nicht so recht, auf was genau wir gerade schauten. Nach einem Moment verstand ich jedoch, dass es kein dunkler Raum ist, sondern ein Berg abgeschnittener Haare der Häftlinge, der den gesamten Raum ausfüllte. Ich konnte nicht weinen. Ich war einfach nur zu schockiert und damit beschäftigt zu denken „das sind viel zu viele“. Diesen Gedanken hatte ich im Laufe der Führung durch Auschwitz und Auschwitz-Birkenau noch öfter.
Aber ab wann ist denn „zu viele“? Wer entscheidet, wie viele Menschenleben noch gerechtfertigt sind oder „zu viele“ sind? Reicht nicht schon ein einziges Leben? Wäre eine niedrigere Zahl der Opfer ausschlaggebend für die gleiche Form der Verurteilung dieser Methoden? Dieser Misshandlung und Entmenschlichung? Wären die Zahlen nur halb so groß oder gar noch kleiner, würde es unsere Sichtweise auf diese Einrichtung, diesen Zustand der Misshandlung ändern? Wäre es dann auch nur halb so grausam? Nein, ohne Zweifel nicht.
Es wäre nach wie vor unvorstellbar brutal. Warum also denken wir immer wieder, dass es „zu viele“ waren? Das Leid an sich ist schon schlimm genug. Die enorme Masse der Opfer bestärkt dieses Leid nochmal extrem. Die Art des Unrechts ist unabhängig von der Vielzahl, ein Grausamkeitsfaktor allein. Jeder Einzelne der Häftlinge erfuhr dieses Leid. Diese Entmenschlichung und Behandlung als wertloses Objekt ohne jeglichen Willen oder eigene Bedürfnisse. Ich denke gerade das ist es, was uns dazu verleitet, so zu denken. Die Zahl, wie viele Menschen darunter litten ist unabhängig von dem unermesslichen Leid zu verurteilen. Denn genau diese Zahl, die von der bewussten Wiederholung von Massen- und Völkermord, Folter und Entmenschlichung zeugt, zeigt die schlimmste Grausamkeit: Zufügung von extremen Qualen im Bewusstsein darüber, was man tut, wiederholt, immer wieder aufs Neue; die gezielte Massenvernichtung. Ohne Hemmungen oder Empathie und Mitgefühl wurden selbst Kinder vergast und gefoltert. Unzählige Male. Dieses Vorgehen wurde nicht als Fehler gesehen oder erkannt, aus dem man im besten Falle lernt und ihn nicht noch einmal begeht, im Gegenteil. Das Ergebnis des Handelns war bekannt und Absicht.
Wir sind durch Flure mit Bildern von Häftlingen gelaufen. Die Zeit hat nicht gereicht, um all ihre Namen zu lesen und jedem ins Gesicht zu schauen. Dafür waren es zu viele. Nicht jeder der 1,1 Millionen Menschen, die dort ihr Leben gelassen haben, hatten ein Portrait logischerweise. Trotzdem war der Flur voll. Niemand lächelte auf den Bildern; meist blickte man in leere, emotionslose, abgemagerte Gesichter. Spätestens jetzt hatte selbst der Letzte begriffen, dass sich hinter der hohen Zahl Menschen verbergen. Die Zimmer und Waschräume der Häftlinge passten zum Rest von Auschwitz: unfreundlich, unbequem, menschenfremd. Auch die Kammern im Keller fügten sich in dieses Bild ein.
Als wir schließlich in der Gaskammer standen, wurde die Stimmung noch bedrückter. Man konnte teilweise Kratzer an den Wänden erkennen. Noch einmal zur Erinnerung: diese Kammer wurde von Menschen zur Vernichtung von Menschen gebaut und genutzt. Die Krematorien hinter der Gaskammer konnten bis zu 4.416 Menschen innerhalb 24 Stunden verbrennen, die Verbrennungsgruben hatten prinzipiell eine unbegrenzte Kapazität.
Danach sind wir ins Vernichtungslager gefahren. In Auschwitz-Birkenau angekommen, sahen wir die vielen Baracken der Häftlinge, die ursprünglich als Pferdeställe gedacht waren. Die Betten standen dicht and dicht und waren allesamt dreistöckig. Das Dach war nur aus Holz, genauso wie die Wände der meisten der 600 Baracken auch. Man kann sich also vorstellen, wie schlecht isoliert die Unterkünfte waren und wie kalt die Winter gewesen sein musste. Die Luft, als wir in einer Baracke standen, war zum Schneiden. Es gab nirgends einen Luftzug oder andere Möglichkeiten für irgendeine Art Luftaustausch.
Ich habe immer wieder versucht mir vorzustellen, wie es als Häftling gewesen sein musste, allerdings bezweifle ich, dass ich in der Lage bin einen solchen Zustand mit solchem Leid wirklich nachvollziehen zu können. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich nie in einer auch nur ansatzweise vergleichbaren Situation war. Trotzdem versuche ich mir bis jetzt vorzustellen, was den Menschen damals durch den Kopf gegangen sein musste. Hatten sie Angst oder waren sie auch wütend und empört über die Behandlung und den Umgang, die ihnen widerfahren ist? Waren sie sowohl physisch als auch psychisch bereits so am Ende, dass sie einfach innerlich taub waren? Wie sie auf den Bildern wirkten? Überwältigt von ihren Emotionen, ihren Schmerzen? Ich habe auch immer wieder versucht mir die Menschen in den jeweiligen Räumen vorzustellen, in denen wir uns befanden. So richtig gelungen ist mir das nie. Ich habe es nicht geschafft, mir vorzustellen, dass so viele Menschen starben. Dass so viele leiden mussten. Dass so viele dieses Schicksal hatten, weil andere Menschen darüber entschieden haben.
Ob diese Leute genauso ein Todesurteil ausgesprochen hätten, wenn sie den Verurteilten gegenübergesessen wären? Oder ihn ein paar Minuten kennengelernt oder mit ihm gesprochen hätten? Würden sie ihnen ihr Urteil persönlich ins Gesicht sagen? Denn auf dem Papier sieht man den Menschen nicht. Man sieht schlicht den Befehl. Die auszuführende Sache. So wurden sie schließlich behandelt. Wie ein Ding.
Das Zeitzeugengespräch am Morgen mir Frau Wernik hat alle emotional ziemlich mitgenommen. Es macht eben einen Unterschied, ob man alles einem Text entnimmt, oder ob man von einer Person, der dieses Leid tatsächlich widerfahren ist, erzählt bekommt, was sie erleben musste.
Frau Wernik sagte uns, dass sie unserer Generation keinen Vorwurf mache, es aber mit in unserer Verantwortung liege, dass sich diese Geschichte nicht wiederholt. Ich sehe das genauso. Die Zeit kann man leider nicht rückgängig machen, aber man kann darauf achten, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Denn das wäre in meinen Augen noch viel fataler als ohnehin schon; man hat nichts daraus gelernt, bzw. vielleicht auch einfach kein Interesse daran, es besser zu machen und wiederholt den Fehler. Auf Kosten von Millionen Menschen. Was man nämlich auch leicht vergisst, sind die Angehörigen der Opfer. Diese leiden genauso unter den Methoden der KZs und tragen selbst teils psychische Schäden davon. Wie unsere Zeitzeugin, die damals erst drei Monate alt war, belastet sie diese Erfahrung enorm. Mit Auschwitz und den ganzen anderen KZs haben wir Mahnmale genug. Es liegt allein an uns, ob wir aus unseren Fehlern lernen, oder nicht.
Rückblickend würde ich sagen, dass der Besuch von Auschwitz-Birkenau sehr wichtig war. Zum einem, um die Geschichte besser zu verstehen, zum anderen, damit einem auch diese unvorstellbaren Maßstäbe der Grausamkeit und Machtgier bewusster werden. Ganz klar, es ist durchaus psychisch belastend und man darf nicht erwarten, etwas Lustiges oder Unterhaltsames zu sehen. Die Besichtigung eines solchen Ortes sensibilisiert und schreckt ab. Aber ich persönlich finde, dass man dort gewesen sein muss, um ansatzweise alles besser verstehen zu können und vor allem mit diesem Negativbeispiel zu wissen, wo man auf keinen Fall mehr hinwill.
Es liegt in unserer Verantwortung, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.